Griechen und Barbaren: Europa und Asien

Griechen und Barbaren: Europa und Asien
Griechen und Barbaren: Europa und Asien
 
Das Verständnis eigener Identität geht bei ethnischen Gruppen zumeist einher mit der Abgrenzung von einer als gänzlich anders empfundenen Außenwelt. Dabei resultiert die Vorstellung von der Einheitlichkeit dieser Außenwelt allein aus der Tatsache, dass diese in einem jeweils unterschiedlichen Maße von den eigenen Verhältnissen abweicht. In Großreichen (wie China oder Ägypten) ist damit die Neigung verbunden, die eigene Ordnung für die allein angemessene zu halten; weniger mächtige ethnische Gruppen können ein Gefühl der Zusammengehörgkeit unter dem Druck einer Bedrohung von außen entwickeln.
 
Religion, Wissenschaft, Literatur, Kunst und materielle Zivilisation der frühesten Epoche der Griechen waren gekennzeichnet durch vielfältige Einflüsse aus den Hochkulturen des Vorderen Orients und Ägyptens. Ein gemeingriechisches Bewusstsein entwickelte sich erstmals in der Zeit der Kolonisierung, die seit dem 8. Jahrhundert v. Chr. griechische Ansiedlungen an den Küsten des gesamten Mittelmeer- und Schwarzmeerraums zur Folge hatte: Das Zusammenleben von Griechen unterschiedlicher Herkunft in den neu gegründeten Gemeinwesen und ihre Kontakte mit der nichtgriechischen Außenwelt förderten ein Bewusstsein der Gemeinsamkeit von Abstammung, Sprache, Religion und Sitten. Eindeutig unterschied man sich von Nichtgriechen nur durch die Sprache; »Barbaren« waren deshalb zunächst diejenigen, die nicht Griechisch sprachen. Weil man sich aber immer der Tatsache bewusst blieb, wie viel die eigene materielle und geistige Entwicklung den Hochkulturen des Ostens und besonders Ägyptens zu verdanken hatte, war diese Bezeichnung nicht mit einem Überlegenheitsgefühl verbunden.
 
Seit der Mitte des 6. Jahrhunderts v. Chr. trug die Etablierung des persischen Großreichs zu einer Erweiterung des Weltbildes der Griechen bei, wie das Beispiel des griechischen Geographen Skylax zeigt, der zwischen 519 und 512 v. Chr. im Auftrag des Perserkönigs Dareios I. eine Erkundungsfahrt nach Arabien und Indien unternahm. Auch mit der Einverleibung der kleinasiatischen Griechen in das Perserreich wuchs die Kenntnis der Griechen von anderen Kulturen, zumal die Perser in ihrem Herrschaftsgebiet die unterschiedlichsten Religionen und Kulturen respektierten. In die Betrachtungsweise von fremden Völker, die sich aus konkreten Erfahrungen, praktischen Bedürfnissen und theoretischer Neugier speiste, mischten sich von Anfang an jedoch auch fiktive Elemente: An den Randzonen der bewohnten Welt vermutete man Völker, die ganz anders als alle anderen seien. Berichte über die in paradiesischen Zuständen lebenden Hyperboreer, die nicht altern und nicht sterben müssen, über menschenfressende Kyklopen und Lästrygonen, einäugige Arimaspen, Pygmäen und Amazonen wurden von Homer bis in die Werke der Ethnographie und Geographie des späten 6. und frühen 5. Jahrhunderts v. Chr. tradiert.
 
Die Konfrontation der Griechen mit den Persern veränderte dann entscheidend den Umgang mit fremden Kulturen. Auf der einen Seite erweiterten sich die Kenntnisse über die Vielfalt anderer Völker mit höchst unterschiedlichen Strukturen bis weit in den asiatischen Raum hinein; auf der anderen Seite brachte sie längerfristig ein politisches Überlegenheitsgefühl der Griechen hervor. Für den Zugewinn an empirischer Erkenntnis und das Bemühen um das Verstehen von Fremdartigkeit steht das Geschichtswerk Herodots über die Perserkriege, seine um 425 v. Chr. abgeschlossenen »Historien«. Herodot integrierte geographische und ethnographische Exkurse über die Völkerschaften, mit denen das Perserreich in Berührung kam, in seinen Bericht. In diesem Überblick, der von der ägyptischen Hochkultur bis zu höchst primitiven Stämmen an den Nord- und Ostgrenzen des Perserreichs reicht, zeigt sich ein ausgeprägtes Interesse an der Vielfalt gesellschaftlicher Gestaltungsmöglichkeiten. Die Darstellung konzentriert sich auf die Religion und die Sitten (vor allem des Geschlechtslebens und des Umgangs mit den Toten), ferner auf die Wohn- und Ernährungsweise. Auffällig ist hierbei neben seiner Aufmerksamkeit für die jeweils beschreibbaren Rituale Herodots Bemühen um Objektivität, das sich auch in seiner durchweg wertneutralen Verwendung des Barbarenbegriffs widerspiegelt; so stellte er etwa fest, dass die Ägypter als Barbaren alle diejenigen bezeichneten, die eine fremde Sprache sprechen.
 
Die Perserkriege mit den großen griechischen Siegen bei Marathon 490 und Salamis 480 v. Chr. veränderten allmählich die Wahrnehmung der Außenwelt durch die Griechen. Aischylos konnte noch mit den 472 v. Chr. aufgeführten »Persern« Xerxes' Niederlage bei Salamis nur deshalb als Tragödie auf die Bühne bringen, weil er eine Position der Sympathie auch für die Seite des Feindes einnahm; auch Herodot suchte, wie es in der Vorrede seiner »Historien« heißt, die Erinnerung an die großen und wunderbaren Taten sowohl der Hellenen als auch der Barbaren zu erhalten. Schon bei diesen Autoren spiegelt sich jedoch zugleich das in den Jahren nach den militärischen Erfolgen gewachsene Bewusstsein eines unauflösbaren Gegensatzes zwischen griechischer Freiheit - gekennzeichnet durch Verantwortlichkeit der Regierenden, Geltung der Gesetze, Redefreiheit und politische Gleichheit - und despotischer Herrschaft bei den Persern wider. Die am Hof des (vermeintlich) allmächtigen Perserkönigs geforderte Proskynese galt als Symbol dieser Differenz; für die Griechen stellte dieses Ritual (im Regelfall eine Art Kusshand, nicht ein Fußfall) eine kultische Verehrung dar, die nur Göttern, nicht aber Menschen zukommen durfte. Das Fehlen der Freiheit wurde wiederum als Erklärung für die angesichts ihrer Machtmittel höchst überraschende Niederlage der Perser genommen, deren Soldaten mit Peitschenhieben zum Kampf gezwungen worden seien. Dieses Bild konnte sich mit sozusagen »ethnologischen« Erklärungen aufladen, nach denen Luxus, Promiskuität, Inzest und Haremsintrigen zu einer durchgehenden Verweichlichung der Perser beigetragen hätten. Bei Autoren des 4. Jahrunderts v. Chr. (Ktesias, Isokrates, Xenophon) ist dies mit einer immer stärkeren Fixierung eines Bildes orientalischer Dekadenz verbunden, das ein Konglomerat von Missverständnissen und Vorurteilen darstellt.
 
Eine Verschärfung des Perserbildes unter politischen Vorzeichen ist auch in der attischen Tragödie in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr. erkennbar - verbunden mit einer Tendenz zur Verallgemeinerung: Anstelle von Aussagen über Perser, Thraker, Skythen oder Ägypter traten solche über die Barbaren als einer einheitlichen Gruppe, der als ganzer bestimmte Verhaltensmuster zugeschrieben wurden. Zugleich wurde behauptet, dass es zwischen Griechen und den Barbaren, die sich regieren ließen, als ob sie Sklaven wären, nur Feindschaft geben könne; daraus leitete man schließlich - etwa bei Euripides - einen Herrschaftsanspruch der Griechen über diese Knechtsnaturen her. Sich auch auf Euripides berufend, identifizierte im späten 4. Jahrhundert v. Chr. Aristoteles in seiner »Politik« die Barbaren, die sich despotisch regieren ließen, mit den von ihm postulierten Sklaven »von Natur«: Es gebe Menschen, die zu ihrem eigenen Nutzen einem Herrn als Sklaven zugeordnet werden sollten; die sklavische Natur der ansonsten intelligenten und künstlerisch begabten Völker Asiens sei durch die klimatischen Verhältnisse bedingt.
 
An die Stelle des Gegensatzes von »Griechen« und »Barbaren« trat unter bestimmten Umständen die Abgrenzung von »Europa« und »Asien«. Der Name »Europa« kam zunächst im Mythos auf; so hieß die phönikische Königstochter, die von Zeus entführt wurde. Nach dieser immer wieder in Dichtung und Bildkunst dargestellten Geschichte hatte Zeus die Prinzessin am Meeresstrand erblickt, sich in einen prächtigen weißen Stier verwandelt und sich ihr genähert. Als sich das ahnungslose Mädchen auf seinen Rücken setzte, sprang er plötzlich auf und floh mit ihr über das Meer nach Kreta. Dort gab er sich zu erkennen und zeugte mit ihr mehrere Söhne. Die geographische Bezeichnung Europa, die wahrscheinlich »tiefes, dunkles Wasser« bedeutet, ist wohl unabhängig davon aufgekommen. Wie es zur Überlappung beider Bezeichnungen gekommen ist, stellte schon für Herodot ein nicht mehr lösbares Rätsel dar. Als Landschaftsname taucht Europa um die Wende vom 7. zum 6. Jahrhundert v. Chr. auf und bezeichnet zunächst das festländische Griechenland im Gegensatz zur Peloponnes und den Inseln der Ägäis. In der Erdbeschreibung des Hekataios von Milet wird der gesamte bekannte Erdkreis in die beiden Hälften Europa und Asien gegliedert. Bei Herodot erscheint dann die Dreiteilung der Erde in Europa, Asien und Libyen (Afrika); als Festlandsgrenze zwischen Europa und Asien wird der Fluss Tanais (der heutige Don) angesehen.
 
Weil auch auf der asiatischen Seite der Ägäis Griechen lebten, konnte man einen politisch-kulturellen Gegensatz zwischen Europa und Asien nur in bestimmten Situationen postulieren - zum Beispiel im Gefolge der Perserkriege. Herodot stellte diese Kriege in die Tradition einer (mit dem Raub der Europa beginnenden) Kette von Gewalttaten, die den Konflikt zwischen Europa und Asien begründet hätten. Eine Zuspitzung des politisch verstandenen Gegensatzes von Europa und Asien lag auch unter den politischen Bedingungen des 4. Jahrhunderts v. Chr. nahe. Der Friedensschluss zwischen Sparta und Persien 386 v. Chr., der die persische Herrschaft über ganz Kleinasien bestätigte, förderte die Vorstellung von einer grundsätzlichen Gegensätzlichkeit. Die im weiteren Verlauf des 4. Jahrhunderts auf griechischer Seite erhobenen Forderungen nach Rache für die Verwüstungen, die die Perser bei den Feldzügen des 5. Jahrhunderts angerichtet hatten, und nach Befreiung der kleinasiatischen Griechen nahmen hierauf propagandistisch Bezug. Geeignet war das Schlagwort auch als Formel für eine gemeingriechische Unternehmung unter Führung der neuen Hegemonialmacht Makedonien, da diese damit die traditionelle Abgrenzung zu den zuvor zumeist als Barbaren betrachteten Makedonen überspielen konnte; nicht ohne Hintergedanken erhielt daher die 336 v. Chr. geborene Tochter des Makedonenkönigs Philipps II. den Namen Europa. Als Alexander der Große dann tatsächlich den gemeingriechischen Feldzug erfolgreich durchgeführt und das gesamte, sich von Ägypten bis nach Indien erstreckende Perserreich erobert hatte, war die Entgegensetzung Europa-Asien weitgehend hinfällig geworden. Mit der Ausdehnung des Erfahrungsraums trug das Weltreich Alexanders zum Fortleben überkommener Stereotypen bei. Seine Geschichtsschreiber versuchten etwa, Indien im Sinne der ökologisch-klimatischen Theorien nach dem Beispiel des vom Nil abhängigen Ägypten zu verstehen. Indien wurde zudem als Tummelplatz für Fantasiewesen aller Art dargestellt. Gleichzeitig stützten aber die Berichte über die »Gymnosophisten«, die »nackten Weisen« Indiens, die Vorstellung einer orientalischen Philosophie, die älter sei als die griechische.
 
Auch in den Römern sahen die Griechen zunächst Barbaren. Mit der römischen Weltherrschaft und der beispiellosen Anpassung des römischen Siegers an die griechische Kultur ergab sich ein Bewusstsein einer neuen kulturellen Einheit, in der auch - so Aelius Aristides im 2. Jahrhundert n. Chr. - die Unterschiede zwischen Europa und Asien als aufgehoben gelten konnten. Die Außenwelt des Römischen Reichs wurde nun als Lebensraum der Barbaren verstanden. Gelegentlich lebte auch in römischer Zeit die politische Instrumentalisierung des Gegensatzes von Kulturwelt und Barbaren wieder auf. Das Bild eines durch Luxus und Ausschweifungen degenerierten orientalischen Potentaten fand in der Bürgerkriegspropaganda von Octavian (Augustus) gegen Marcus Antonius seinen Niederschlag und blieb ein Motiv späterer Kritik an tyrannischen Kaisern. Außerdem wurden die römischen Eroberungen als eine Zivilisierungsmission dargestellt, durch die Völker zur Sesshaftigkeit gebracht oder »barbarische« Praktiken (zum Beispiel Menschenopfer) unterdrückt würden. Mit dem Eindringen der Germanen in den westlichen Teil des Reichs ging in der Spätantike die Selbstbezeichnung als »Römer« auf den Ostteil des Reichs über und kennzeichnete dort auch später noch das Selbstverständnis des Byzantinischen Reichs.
 
Die in der Antike entwickelten Muster der Wahrnehmung fremder Kulturen bestimmten bis in die Gegenwart hinein in vielfältiger Weise den Umgang der Europäer mit der übrigen Welt. Es lag in der Struktur des Barbarenbegriffs als eines »asymmetrischen Gegenbegriffes« begründet, dass er zur Abgrenzung von Heiden, Muslimen, »Primitiven« immer wieder neu »besetzt« werden konnte. So nahmen noch Reiseberichte der frühen Neuzeit die Türkei, Persien und Indien mit den Kategorien wahr, die sie aus der antiken Tradition übernommen hatten; daneben bestand jedoch stets auch das Bild vom märchenhaften Orient, dessen alter und weiser Kultur große Bewunderung entgegengebracht wurde.
 
Prof. Dr. Wilfried Nippel
 
 
Dahlheim, Werner: Die Antike. Griechenland und Rom von den Anfängen bis zur Expansion des Islam. Paderborn u. a. 41995.
 Dihle, Albrecht: Die Griechen und die Fremden. München 1994.

Universal-Lexikon. 2012.

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